„»Übrigens ist mir alles verhaßt, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren oder unmittelbar zu beleben.« Dies sind Worte Goethes, mit denen, als mit einem herzhaft ausgedrückten Ceterum censeo, unsere Betrachtung über den Wert und den Unwert der Historie beginnen mag. In derselben soll nämlich dargestellt werden, warum Belehrung ohne Belebung, warum Wissen, bei dem die Tätigkeit erschlafft, warum Historie als kostbarer Erkenntnis-Überfluß und Luxus uns ernstlich, nach Goethes Wort, verhaßt sein muß – deshalb, weil es uns noch am Notwendigsten fehlt, und weil das Überflüssige der Feind des Notwendigen ist.“ (Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. In: ders., Unzeitgemäße Betrachtungen. Berlin 2014. S. 59.)
Die Geschichte hat keinen Anfang und kein Ende. Sie ist stets das Produkt vorausgegangener Ereignisse und der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse und Anschauungen. Seit Thukydides hat sich die Geschichtsschreibung die Aufgabe einer objektiven Sichtweise auf historische Ereignisse gestellt. Was aber ist das Objekt der Betrachtung?
Als Essenz historischer Betrachtungen bleiben stets Zahlen und Fakten, Orte und gewichtige Persönlichkeiten als Eckdaten bestehen. Die persönlichen Schicksale der Menschen, die durch ihren Einsatz dazu beitragen, dass Geschichte überhaupt erst produziert wird, gehen zumeist über kurz oder lang verloren. Geschichte (als gemeinsames geistiges Kapital) verhält sich analog zum Markt: ein elitär ausgewähltes und beworbenes Erzeugnis, das von vielen Namenlosen produziert wird, von dem wiederum nur wenige profitieren und in Erinnerung bleiben. Geschichte wird so zu einem sozialen Konstrukt, das eine Wirklichkeit identifikatorischen Charakters im Nachhinein produziert und Kontradiktorisches im Vorhinein auszuschließen versucht. Sich Geschichte als gemeinsame Vergangenheit anzueignen ist gleichbedeutend mit kritiklosem, unhinterfragtem Konsum.
Es geht dabei um eine Inszenierung des Objektes, um die Vermarktung eines Produktes, das massenattraktiv und glaubwürdig erscheint. Geschichte als „kollektives Gedächtnis“ wird so zum Mythos, einem ideologischen Instrument der kollektiven Verführung. „Eine Funktion der Ideologie besteht darin, die gesellschaftliche Wirklichkeit ,natürlich’ zu machen, sie als so unschuldig und unveränderlich wie die Natur selbst erscheinen zu lassen. Die Ideologie versucht Kultur in Natur zu verkehren, und das ,natürliche’ Zeichen ist eine ihrer Waffen. Vor einer Flagge zu salutieren oder mit der Ansicht übereinzustimmen, dass die westliche Demokratie die wahre Bedeutung des Wortes ,Freiheit’ repräsentiert, wird zur selbstverständlichsten, spontansten Reaktion der Welt. In diesem Sinne ist Ideologie eine Art moderner Mythologie, ein Bereich, der sich von Zweideutigkeit und alternativen Möglichkeiten gereinigt hat.“ (Terry Eagleton, Einführung in die Literaturtheorie. Stuttgart, Weimar 1994. S. 119f.)
Sofern Geschichte in der Haltung intellektueller Eitelkeit und belehrenden Wissens verbleibt, darf ihr – mit Nietzsche gesprochen – jeglicher gesellschaftlicher Nutzen abgesprochen werden. Weil aber die Geschichte niemals zu Ende geht und sich stets aufs Neue (re-)produziert, gibt sie uns die Möglichkeit, auf ihr als Handlungsorientierung aufbauend zu agieren und selbst Geschichten zur Geschichte zu schreiben.
„Es ist wahr: erst dadurch, daß der Mensch denkend, überdenkend, vergleichend, trennend, zusammenschließend jenes unhistorische Element einschränkt, erst dadurch, daß innerhalb jener umschließenden Dunstwolke ein heller blitzender Lichtschein entsteht – also erst durch die Kraft, das Vergangene zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen, wird der Mensch zum Menschen: aber in einem Übermaße von Historie hört der Mensch wieder auf, und ohne jene Hülle des Unhistorischen würde er nie angefangen haben und anzufangen wagen. Wo finden sich Taten, die der Mensch zu tun vermöchte, ohne vorher in jene Dunstschicht des Unhistorischen eingegangen zu sein?“ (Nietzsche, S. 63.)